Carbon Laufschuhe. Was bringen sie wirklich?

Carbon Laufschuhe für den perfekten Lauf
Carbon Laufschuhe sind heute beim Marathon nicht mehr wegzudenken.

In letzter Zeit fällt besonders auf den Langstrecken ein Rekord nach dem anderen. Viele sehen den Grund hierfür unter andere min einer neuen Generation von Runningschuhen. Denn die aktuell schnellsten Laufschuhe der Welt weisen alle eine Gemeinsamkeit auf: In ihren Mittelsohlen ist das Hightech-Material Carbon eingebaut. Kamen die Carbonsohlen vorerst nur bei Eliteläufer:innen zum Einsatz, sind nun auch immer mehr Hobbyläufer:innen damit auf den Straßen unterwegs. 

 

Aber worum handelt es sich bei diesem Werkstoff eigentlich? Carbon ist ein industriell hergestellter, mit Kohlenstofffasern verstärkter Kunststoff. Vielen ist Carbon vielleicht eher als Beschichtung der Innenausstattung von Autos oder als Rahmenmaterial sündhaft teurer Rennräder bekannt. Bereits in den 1990er Jahren begannen einige Marken mit den ersten Experimenten im Bereich der Carbonschuhe; jedoch ohne den ganz großen Durchbruch zu erzielen. Denn die Produktion ging in der damaligen Zeit noch mit zu hohen Kosten einher. Im Rahmen des „Breaking2“-Projekts machte es sich der US-Hersteller Nike zur Aufgabe, einen völlig neuartigen Schuh zu entwickeln. 2017 launchte Nike mit dem VaporFly 4% (Frauen / Männer) sein erstes Schuhmodell mit Carbonfaserplatte in der Mittelsohle. Allein schon rein äußerlich hatte der VaporFly 4% nur wenig Ähnlichkeit mit den auf dem Markt vorhandenen Wettkampfschuhen. Diese zeichneten sich in der Regel durch eine sehr dünne Sohle, ein geringes Gewicht und hohe Flexibilität aus. Zwar war der VaporFly 4% immer noch leicht, jedoch aufgrund der verbauten Carbonplatte in der Zwischensohle auffällig steif.

 

Auch wenn Eliud Kipchoge beim ersten Anlauf die magische Marke von zwei Stunden über die 42,195km noch um knappe 26 Sekunden verpasste, erweckte die neue Technologie gleich viel Aufmerksamkeit: Denn Carbon ist nicht nur besonders leicht, sondern gleichzeitig stark belastbar. Zudem kann es eine große Menge an Energie absorbieren und wieder zur Verfügung stellen. All diese Eigenschaften machen Carbon zu einem optimalen Material zur Herstellung von Sportgeräten. Dies wird durch die Wettkampfresultate der vergangenen Jahre unterstützt: Denn 2019 gelang es Kipchoge, unter Laborbedingungen mit 1:59:40 Stunden die markante Zwei-Stunden-Marke zu unterbieten. An seinen Füßen: Ein Prototyp des AlphaFly Next%

 

Ist der Trend nur heiße Luft oder was bringen die neuen Carbonschuhe wirklich? Antworten auf diese Frage liefert der erste Teil der Podcastfolge mit Biomechaniker Prof. Dr. Steffen Willwacher (vom 20.September 2021). Er arbeitet genau in der Schnittstelle von Sportwissenschaft, Maschinenbau und Informatik, was er selbst als „Glücksfall“ bezeichnet. Gleichzeitig bringt er aus seiner Jugend selbst Erfahrung aus der Leichtathletik mit, in der er als Zehnkämpfer zuletzt für das Leichtathletik-Team der DSHS Köln gestartet ist.

 

Im Falle des VaporFly ́s geht man laut Prof. Willwacher davon aus, dass er über alle Menschen hinweg gemittelt eine Verbesserung der Performance um 2-3% im Vergleich zu Sportler:innen in Durchschnittsschuhen bringt.

 

Aber wie wird eine solche Studie zur Kontrolle der Leistungsverbesserung überhaupt durchgeführt? Prof. Willwacher liefert die Antwort: Mittels einer Atemgasanalyse –im Fachjargon auch Spiroergometrie genannt –wird gemessen, wie viel Sauerstoff während des Sporttreibens aufgenommen wird. Unter der Annahme, dass der Sauerstoffverbrauch stark mit dem metabolischen Energieverbrauch beim Laufen korreliert, kann geschlussfolgert werden, wie viel Energie man beim Laufen verbraucht. Oder eben, wie viel Energie man durch eine Carbonfaserplatte einspart. Allerdings gibt es einige Einschränkungen dieses scheinbar simplen Zusammenhangs: Denn spirometrische Analysen sind eher beim Training im submaximalen Bereich gültig. Dies ist der Fall, wenn wir im aeroben Bereich laufen; Das heißt,man gewinnt Energie aus Kohlenhydraten und Fetten unter Sauerstoffverbrauch. Anders als bei der Atemgasanalyse erreicht man im Wettkampf jedoch auch den anaeroben Bereich der Energiebereitstellung. Hier wird Energie ohne Verwendung von Sauerstoff produziert, wobei als „Abfallprodukt“ das allgemein bekannte (und verhasste) Laktat entstehen kann (anaerob laktazid). Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass beim Laufen der Luftwiderstand nicht linear ansteigt, sondern zum Quadrat. Jedoch ist unter Laborbedingungen wohl kaum mit Luftwiderstand zu rechnen... Aus diesen Gründen liegt die Leistungsverbesserung also nicht wie prognostiziert bei 4%, sondern „lediglich“ bei 2-3%. 

 

Zwar mögen sich 2-3% nach einer geringen Steigerung anhören; Auf die jeweilige Laufzeit über 10km, Halbmarathon oder Marathon hochgerechnet, ist dies trotzdem enorm. So enorm, dass man von einem signifikanten Vorteil von VaporFly-Träger:innen gegenüber Wettstreitern mit anderem Schuhwerk sprechen kann. Dieser Effekt tritt bei allen Läufertypen auf–Männern wie Frauen, schnellen wie langsamen (Hobby-)Läufer:innen und Profiathlet:innen. Schlussendlich gilt aber: All diese Werte sind sehr individuell und hängen unter anderem von der Größe, dem Gewicht und vielen weiteren Faktoren ab. Aufgrund ihres durchschnittlich geringeren Gewichts sollen besonders Läuferinnen mehr als Läufer von der Carbonzwischensohle profitieren.

 

Trotzdem bringt die neue Generation von Schuhmodellen nicht nur den Vorteil der Leistungsverbesserung mit sich: In der Podcastfolge vom 07. Juni 2021 berichtete Simon Boch von einer später einsetzenden Ermüdung des Bewegungsapparates durch Carbonschuhe: Dieser Effekt sei nach Prof. Willwacher bisher noch nicht durch Studien belegt. Aber es gebe einige plausible Gründe, warum dieBelastung für die Muskulatur subjektiv geringer ausfallen könne. Für den positiven Einfluss auf die Laufleistung existieren allerdings empirische Belege: Eine mögliche Erklärung liegt in der Kombination aus dem steifen Carbonelement mit einem weichen, rückfedernden Mittelsohlenmaterial. Ursprünglich wurde die Aufprallenergie bei jedem Schritt in den Sehnen der Beinmuskulatur absorbiert. Mittlerweile ist der Schaum, der für die Mittelsohleder neuen Schuhmodelle verwendet wird, deutlich leichter, weicher und elastischer geworden. Das hat zur Folge, dass ein gewisser Teil der Energie durch das responsive Dämpfungsmaterial aufgenommen werden kann. Danach wird diese beim Abrollen nach vorne wieder nutzbar gemacht. Das heißt, die Carbonplatte gibt dem/ derLäufer:inviel seiner Verformungskräfte wieder zurück. Zudem müssen Carbonschuh-Träger:innen beim Abrollen die Zehen nicht mehr krümmen, da die unflexible Sohle die Zehengelenke steif hält. Das spart zusätzlich Energie. Im Enddefektmuss pro Schritt weniger Muskelaufwand betrieben werden.

 

So viele Vorteile befeuern natürlich auch Debatten um die Chancengleichheit im Sport. Spätestens seit Kipchoges Weltrekord 2018 in Berlin liefert sich die Laufszene heiße Diskussionen: Spart man mit den neuen Schuhmodellen so viel Energie, dass sie einen unfairen Vorteil bieten? Aus diesem Grund veröffentlicht World Athletics regelmäßig überarbeitete Listen mit den zugelassenen Schuhen. Diese Listen basieren auf der sogenannten„Rule 5 of the Technical Rules“. Demzufolge gilt momentan, dass ausschließlich Modelle im Straßenlauf erlaubt sind, deren Sohlendicke 40mm nicht überschreitet und in denen maximal eine Carbonplatte eingebaut ist.

 

Aber für wen sind die neuen Carbonschuhe denn nun geeignet? Ursprünglich wurden die Schuhe mit Carbonfaserplatte speziell für den Profisport konzipiert. Aber selbstverständlich wecken die Leistungsexplosionen auf den Langstrecken auch bei ambitionierten Hobbyläufer:innen Hoffnungen: Wäre es mit Carbonschuhen an den Füßen vielleicht möglich, den Marathon einmal unter vier Stunden zu finishen? Doch hier ist Vorsicht geboten: Denn die neue Technologie birgt auch gewisse Risiken. Die steife Carbonzwischensohle beansprucht vor allem die Wadenmuskulatur und Achillessehne stärker. Besonders letztere ist bei europäischen Läufer:innen im Vergleich zu afrikanischen genetisch bedingt verkürzt. Dadurch steigt das Verletzungsrisiko und physiologische Probleme treten mit höherer Wahrscheinlichkeit auf. Carbonschuhe sind also weniger fürs Jogging gemacht! Eine fachkundige Beratung und Laufanalyse im Laufshop deiner Wahl sollte vor dem Kauf also Pflicht sein!

 

Inzwischen haben andere Sportartikelhersteller nachgezogen: In den letzten drei Jahren begannen neben Nike auch Global Player wie Adidas, Asics und New Balance, Runningschuhe mit Carbonplatte anzubieten; immer mit dem Ziel, die Energierückgewinnung und Effizienz ihrer Schuhe zu verbessern. Dadurch ist der Wettkampf mittlerweile wieder fairer geworden; Denn die Unterschiede zwischen den Modellen der Marken fallen eher geringaus.

 

In Zukunft wird mit Sicherheit eine Vielzahl an empirischen Studien und heißen Diskussionen rund um die neue Generation der Carbonschuhe folgen. Wir dürfen also weiterhin gespannt sein und einen Blick auf diese Thematik werfen...

 

Autorin: Linn Kleine

 

Quellen:

 

Wettkampflaufschuhe mit Carbonplatten im 2020er Praxistest (tri2b.com)

 

Carbon-Laufschuhe im Test | RUNNER'S WORLD (runnersworld.de)

 

Carbonfasern in Laufschuhen -die Zukunft? | Runster

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